Zweiter Tag

 

 

 

Am Zweiten Tag teilte mir die Kursleiterin vor dem Unterrichtszimmer

mit, daß einige Teilnehmer nicht mehr mitmachen wollten. Es würde sie

überfordern. Andere hingegen, vor allem die jüngeren Teilnehmer, wollten

sehr gerne weitermachen. Ein Teilnehmer meinte, "er würde sich nicht

ausbeuten lassen". Wenn die anderen das nicht merken würden, sei das ihre

Sache, aber mit ihm könne man das nicht machen, so der Teilnehmer. Dies

erinnerte mich an meine Bedenken, ich würde Analphabetismus als Zoo

begreifen und die Betroffenen als exotische Schaustücke sehen. Seine

Äußerung empfand ich legitim, ich sah den Workshop eher als Austausch

möglichkeit. Ich erfuhr von den Teilnehmern für mich Unbekanntes, die

Teilnehmer ebenso. An diesem Nachmittag unterhielten wir uns nur.

 

 

Gespräch

Eine Teilnehmerin hatte die gesammelten Arbeitsblätte ihrer drei Jahre Alfabetisierungskurs

dabei. Wir schauten sie uns gemeinsam an und sprachen darüber. Arbeitsblätter, die mit

Text und Bild arbeiteten, waren beliebter. Eine andere Teilnehmerin bevorzugte hingegen

das am einfachsten gestaltete Blatt, mit nur wenig Buchstaben und klar gestellten

Aufgaben.

 

"Wir können uns viel merken. Wenn ich das mal gesehen habe oder

gemacht habe, dann kann ich das immer wieder. Aber gesehen muß

ich es haben."

 

"Mein Enkel hat einen Computer, der macht tolle Sachen, mit Schrift

und so."

 

"Wir sind ja nicht blöd, wir sehen schon, ob das ein Italiener oder

ein Türke ist."

Auf die Frage, woran sie erkennen, welche Art von Restaurant sie besuchen.

 

 

"Zet, u, d, k, e, err. &endash; Salz, das ist Salz. Die Buchstaben kann ich

fast alle, nur das Zusammenziehen kann ich nicht."

Ich habe eine kleine Typografie-Sammlung aus dem eigenen Haushalt mitgebracht.

Behördenbriefe, Schriftmusterprospekte und mehr. Die Teilnehmerin bekam ein Päckchen

Zucker aus einer Gaststätte gezeigt. Sie sollte herausfinden, was es ist.

 

"Im Restaurant, da will ich nicht immer abwarten, was die anderen

bestellen und mir dann davon was aussuchen, ich will selber lesen

können, was es gibt."

 

 

"Ich geh nicht in die Stadt ... Selten."

Ich wollte wissen, wie sie Typografie im Stadtbild aufnehmen, wie sie auf sie wirkt. Ob sie

sie versuchen zu entziffern, ob sie sie nur so anschauen oder ausblenden. Im weiteren

Gespräch wurden aber alle von mir angedeuteten Möglichkeiten genannt, Schriftzüge in

der Umgebung wahrzunehmen.

 

 

"Das ist so deutsche Schrift hier, oder?"

"Mir gefällt diese am besten"

"Ich kann die gar nicht lesen." (Reichert)

"Ich nehme diese."

"Dir gefällt das einfache, oder?" (Rygulla)

"Ja."

Den Teilnehmern wurde der Schrifttypenprospekt der "HoeflerType Foundry" gezeigt.

Auf einer Seite werden fünf verschiedene Schrifttypen vorgestellt. Ingrid Rygulla fragte,

welche Schrift sie sich aussuchen würden, zum Beispiel für ein Schild an der Tür.

 

 

"Was ist das?" (Rygulla)

"'Pe', 'I' aber die beiden kenn ich nicht."

"Das sind zwei 'Zet', in einer speziellen Schrift, einer anderen

Schreibschrift." (Rygulla)

"Pizza Taxi."

"Wenn Ihr Euch jetzt was bestellen wolltet, wie würdet ihr dann

vorgehen?" (Rygulla)

Ich verteilte an jeden Teilnehmer denselben Prospekt eines Italiensichen Restaurants.

 

 

"Also ich würde erst mal nach dem Wein schauen."

Routiniert blättert er auf die letzte Seite und schaut.

 

 

"Und woran siehst Du wo der Wein steht ?" (Reichert)

"Hier ist doch eine Weinflasche, ist doch klar."

"Stimmt eigentlich. Und welchen?" (Reichert)

"Einen Weissen. Aber erst mal nach dem Preis schauen."

Ab hier ging es nicht mehr weiter. Der Teilnehmer kam ins Stocken, konnte mit den

schriftlichen Informationen nichts anfangen.

"Und jetzt Pizza, oder so ?" (Rygulla)

"Mmmhh."

"Ich nehm die 16."

"Warum die 16?"

"Weil die immer gut schmeckt."

Die Teilnehmerin grinste.

 

 

"Das sieht man, daß das von einer Behörde kommt, sowas versuche

ich gar nicht erst zu lesen, dann macht man was falsch und was ist

dann ? So was schmeiß ich gleich weg."

"Ui! Das ist vom Amt. Das sieht man. Da habe ich auch schon öfters

was bekommen, das sieht so aus."

Reaktionen auf ein Verwarnungsschreiben von der Verkehrsbehörde.

 

"Fährt jemand nachher mit der Straßenbahn? Ich muß nach Hoechst."

 

 

 

Dritter Tag

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