Erster Tag

 

 

Der Workshop fand im Rahmen eines regulären Alphabetisierungskurses der

VHS Frankfurt statt, der von Ingrid Rygulla geleitet wurde. Er findet

zweimal die Woche statt und erstreckt sich über drei Stunden am späten

Nachmittag.

 

 

Vorstellung

Ich habe mich vorgestellt, habe erklärt, daß ich Grafik-Design studiert

habe, daß Grafik-Design unter anderem die Gestaltung von Plakaten und

Verpackungen bedeutet. Und was ich mir überlegt habe: Daß sie vielleicht

anders an ein Thema herangehen, welches ich studiert habe und mich

interessiert, vielleicht besondere Fähigkeiten besitzen, die mich inter

essieren würden. Und das ich mit ihnen arbeiten möchte. Es waren acht

Teilnehmer: sechs Frauen, zwei Männer. Im Alter von 30 bis 70, wobei die

Hälfte um die sechzig war.

 

Buenos Dias

Den Teilnehmern wurden Dias gezeigt, auf denen typografische Arbeiten zu

sehen waren, Arbeiten, in denen mit Schrift unkonventionell umgegangen

wurde. Zeitgenössiche Typografie von Edward Fella, Tomato, David Carson,

typografische Fundstücke sowie eigene Arbeiten.

Um den Teilnehmern zu zeigen, was alles möglich ist. Sie reagierten mit

Interesse und bekundeten dies mit vorsichtigen "Ah's" und "Oh's",

wollten wissen, was da steht und entzifferten es teilweise selbst. Ich gab

zu jedem Dia Erklärungen. Die Gespräche und Kommentare, die während des

Workshops geführt wurden möchte ich in O-Tönen wiedergeben. Kommen

tare, die von Ingrid Rygulla oder mir abgegeben wurden, sind besonders

gekennzeichnet.

 

"Hier geht es darum, mit Schrift zu arbeiten, etwas darzustellen unabhängig

ob man nun alles lesen kann, der Betrachter soll auch ohne Lesen ein Gefühl

für den Inhalt bekommen." (Reichert)

Ich zeigte hier einen Ausschnitt von ‹Skyscraper-I Love You" von Tomato, ein expressive,

durch Typografie dargestellte Interpretation der Stadt New York und erklärte meine

Einschätzung der Arbeit.

 

 

"[tsarson]"

Auf einem Plakat stand Carson in der linken oberen Ecke, versteckt. Eine Teilnehmerin,

versuchte zu entziffern, erkannte die Buchstaben, sprach es aber falsch aus.

 

 

"schön."

Reaktion auf den Flyer ‹A photo I Just Love", ein Flyer nur mit Buchstaben, in magenta,

verspielt gesetzt.

 

 

"Ich versuche, den oberen Schriftzug zu entziffern."

Teilnehmerin zu dem Flyer ‹Strong Shit", dessen Überschrift fast unleserlich, aber groß ist.

Den erklärenden oder weiterhelfenden, aber kleiner gesetzten Fließtext nutzte sie nicht.

 

 

"Die Werbung funktioniert geradliniger, nicht mehr so spacig wie in

den 80ern, jetzt ist alles straight, in leuchtenden Farben, egal was für

Schrift. Es kommt auf die Aufmachung an, Farbe, Schrift(art) spielt

eigentlich keine Rolle. Jetzt heißt es nur noch 'Kaufe', oder 'Kaufe

nicht'."

Aussage eines Teilnehmers über Anzeigen und Werbung.

 

 

 

Erste Aufgabe

Nachdem die Teilnehmer eine ungefähre Vorstellung von dem bekommen

haben, in welchem Bereich ich mit ihnen arbeiten möchte, stelle ich die

erste Aufgabe. Ihr Thema beinhaltet das genaue Gegenteil von ihren

Erfahrungen mit Schrift. Sie sollen mit Schriftelementen den Begriff

"Freude" darstellen.

 

"Was sollen wir jetzt machen? Basteln?"

 

Als der Begriff 'Basteln' fiel, dachte ich, alles wäre vorbei. Die

Teilnehmer denken bestimmt, ich will sie auf den Arm nehmen oder mit

ihnen Kindergarten-Spiele machen. Dem war aber nicht so. Es war einfach

so, daß die Teilnehmer mit den Begriffen 'Gestalten' oder 'Produzieren'

nicht so vertraut waren wie zum Beispiel Studenten an einer Gestaltungs

hochschule. Oder Menschen mit Schreibkompetenz, die Ideen durch Ver

schriftung darstellen und gestalten können. Diese Übung fehlt Analphabeten,

diese Fähigkeit hatte vielleicht gar keine Zeit, sich zu entwickeln.

Ingrid Rygulla, die mich unterstützende Kursleiterin, rettete mich aus der

für mich finalen Situation, indem sie in die Hände klatschte und sagte:

"Machen wir doch, oder? Laßt es uns probieren!"

Wir rückten die Schultische zu einer großen Arbeitsfläche zusammen und

ich verteilte Papier, bunte Stifte, Schablonen und Vorlagenblätter in

verschiedenen Farben. Diese stellte ich als Hilfsmittel vor, die das

Arbeiten erleichtern können.

 

"Ich hab noch nie gemalt, früher hatten wir da keine Zeit dafür."

"Das ist kein Malen."

"Ich habe schon ewig keine Linie mehr gezogen, das ist gut."

"Früher haben wir so was nicht gemacht, so malen, da war Krieg."

 

"Es geht nicht darum, das man etwas lesen kann. Aber wenn man es

an die Wand hängen würde, sollte ein anderer auch ‹Freude"

verstehen oder einen Eindruck davon bekommen." (Reichert)

"Das ist schwierig."

"Aber man kann es versuchen." (Reichert)

 

 

 

"Soll ich das so machen?"

Die Teilnehmer waren anfangs erstaunt über die Freiheit, die ihnen zugestanden wurde.

 

 

"Mich beruhigt das, das macht richtigen Spaß."

 

 

"Das sind schöne Farben."

Neonfarben fanden bei einigen Teilnehmern besonders großen Anklang.

 

 

"Da hatte ich noch keine Idee, aber hier dann."

Eine Teilnehmerin über ihren Entwurfsprozeß

 

 

"Wenn man einen Bericht in der Bild liest und danach in der FAZ,

dann merkt man schon, welche politische Einstellung hinter den

Redaktionen steht."

Wir unterhielten uns weiter. Ich bat die Teilnehmer, mir ihre Meinung oder Eindrücke zu

schildern, die sie von Schrift oder Anwendungen von Schrift haben.

Ein Teilnehmer über seine Erfahrungen mit Zeitungen. Dieser Teilnehmer hatte keine

Schwierigkeiten mit dem Lesen, aber beim Schreiben war er zu chaotisch.

 

 

"Gestern in der U-Bahn, da waren so zwei Jugendliche, die haben

einer Frau einen Löffel mit Spucke an die Hose gewischt."

Ich hatte vorher die Arbeit mit dem Kaffeelöffelalphabet ‹Two sugar, No Milk" gezeigt .

 

 

"Die Karte ist ganz schön geworden, mit verschiedenen Buchstaben,

bunt und mit Paketen drumherum. Schön hat sie es gemacht."

Eine Teilnehmerin über die selbst gestaltete Einladungskarte zum 40. Geburtstag ihrer

Tochter.

 

 

"Mein Sohn ist viel unterwegs, ist Kameramann beim Fernsehen."

 

"Die sind im Trott, und wollen da auch nicht raus."

Antwort einer Teilnehmerin auf die Frage, ob sich die Teilnehmer beim Workshop filmen

lassen würden. Die Teilnehmer wollten nicht erkannt werden, eine Enttarnung würde eine zu

große Veränderung in ihrem Leben bedeuten.

 

 

"Ich habe so ein blödes Gefühl im Magen wenn eine Veränderung

ansteht, etwa die Reise in den Bayrischen Wald . Und wenn ich dann

unterwegs bin merke ich, es ist gar nicht so schlimm."

"Und wie war das, als Du letztes Jahr in Florida warst?" (Rygulla)

"Da war es genauso. Es ist egal, wie weit ich verreise."

 

 

"Ich schmeiss alles gleich weg. Nur die persöhnlichen Briefe nicht."

"Kann man auch Übungsblätter mitbringen ? Da sind ein paar dabei,

da bin ich doch richtig wütend geworden. Da kam sie mit sowas, wir

können das eine nicht einmal und dann sollen wir schon das andere

können."

Ich habe die Teinehmer gebeten, nächstes Mal "Sachen" mit Schrift mitzubringen, eine

Auswahl mit Beispielen, die ihnen gefallen und die ihnen nicht gefallen. Eine Teilnehmerin

erinnert sich bei der Gelegenheit an ein Arbeitsblatt, das die Kursleiterin mit in den

Untericht gebracht hatte. Es erschien ihr zu komplex, fand sie ihrem Kenntnißstand nicht

angepaßt.

 

Der Zweite Tag.

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