abgelenkt wird. Ich hingegen habe nicht die große Auswahl, um mir anhand von diesen Nebensächlichkeiten die Unterschiede in den Verkehrs-Szenarien einzuprägen. Aber ich habe keine andere Möglichkeit.
Seit Monaten büffele ich für die Führerscheinprüfung. Es wäre einfacher, wenn zu den einzelnen Zeichnungen immer die gleichen Fragen gestellt werden würden. Aber hier wird variiert. Bernie hat schon lange keine Lust mehr, die Fragen vorzulesen, damit ich sie mir zusammen mit den Bildern einprägen kann. Ich achte auf Besonderheiten oder Konstellationen in den Zeichnungen, muß mir aber auch die verschiedenen Wort- und Satzbilder anschauen und nach prägnanten Eigenheiten abgrasen. In drei Wochen ist Prüfung. Und Bernie leiert einen weiteren Fragenkatalog herunter.


16.
Ist doch gar nicht nötig Lesen und Schreiben zu lernen. Schrift ist nicht durch die Natur der Dinge gebildet wie zum Beispiel Fußabdrücke auf dem Teppich, also nicht notwendig. Sondern durch Setzung, durch uns Menschen, also prinzipiell beliebig eigentlich.
Außerdem habe keine Lust dazu. Ich bin doch dann völlig den Nachrichten anderer ausgeliefert. Mir genügt es schon, wenn ich im Bus sitze und die schnarrende Bandstimme der Verkehrsbetriebe Typ „Frau“ mir ständig erzählt, wie die nächste Haltestelle heißt. Das ist doch vergleichbar mit den Nachrichten im Stadtbild, welche auf mich niederprasseln würden. Als ob alle Welt ständig neue Wege gehen würde, Pioniere wären und sich neu zurechtfinden müßten anhand von Informationen. Die meisten fahren doch nur vom Einkaufen nach Hause. Und ich weiß ja, wo ich wohne.
Jedenfalls sitze ich gerade im Zug nach Köln zu meiner Schwester. Sie holt mich hoffentlich vom Bahnhof ab. Die Zugfahrt führt mich Deutschlands Schönheiten vorbei. Und in einem kleinen Ort mit vielen kleinen Fachwerkhäusern, welches ich gerne mal besuchen würde, stehen überall gelbe, pfeilförmige Schilder. Die sagen einem, wo man noch überall hinfahren kann. Anstrengend. An so einem Ort will ich doch nicht wissen, wo es noch überall hingeht.


17.
In Köln war es schön. Jetzt muß es schnell gehen. Ein grünes Post-It hängt an meiner Schreibtischlampe. Ich schaue kurz im Raum umher, durch die Glasscheiben, die den Raum in viele kleine zerteilen, ob jemand was mit der Nachricht zu tun hat und jetzt auf mich zukommt. Nichts. Es hat nichts mit anrufen zu tun, die Kombination in einem Geschreibsel von „r“ und „f“ habe ich mir gut eingeprägt. Mist, auch kein Bernie in der Nähe, der mich mit einem verschwörerischem Augenzwinkern und nach einem beiläufigen Blick auf die Nachricht daran „erinnert“, den Wachhabenden anzurufen oder was auch immer. Ich hasse diese Zettel. Entweder ich bleibe jetzt noch stundenlang vor diesem Zettel stehen, oder ich gehe einfach. Was kann es sein, die Kombinationen von diesen Zeichen sagt mir gar nichts. Auch von wem es geschrieben ist, kann ich nicht sehen. Der oder diejenige muß neu sein oder von einer anderen Abteilung.
„Was ist denn mit den Vergrößerungen von unserer Patrizia? Ich dachte, Sie können sie mir vielleicht heraussuchen oder mir Bescheid geben?“. Der Chef ist von hinten an mich herangetreten.
„Aber wenn Sie gerade zu beschäftigt sind, können wir das auch heute nachmittag erledigen, vielleicht ?“
Er klingt nicht so gut.
„Doch, doch, alles klar, das geht schon“, stammel ich, warum kann er nicht „Fotos“ draufschreiben wie jeder andere auch (das hätte ich erkannt) und muß diesen besonderen speziellen Begriff „Vergrößerungen“ benutzen?
„Ich bin gerade erst von draussen gekommen und wollte sie gerade heraussuchen und Ihnen schicken lassen.“ „Prima, vielen Dank“, erwiderte der Chef und verschwand. Draußen schienen die Wolken viel heller und freundlicher zu sein als vor fünf Minuten, auch der Himmel war blauer, und es gab eine leichte Überstrahlung an den Kanten der Wolken.


18.
Daheim ist es dunkel. Wenn ich das Deckenlicht anmachen würde, würde es mich blenden, wäre nicht so gemütlich. Ich muß mir endlich eine vernünftige Lampe, Typ „Leselampe neben Sessel stehend“ kaufen. So bleibt mir nur, im Dunkel zu sitzen.
Was hat Keller damit gemeint, als er von den Blumen von Tizoe gesprochen hat? Meint er den Laden von Frau Juki? Diese Frau mit der netten kleinen Tochter, die den ganzen Tag aus dem Schaufenster schaut wie ein verträumter Hund? Was hat sie damit zu tun? Ihr Laden ist doch gar nicht in der Nähe von dem Laden von Harrer, in dem der Körper der Frau gefunden worden ist. Diese Schrift auf einem Schild oberhalb Harrer’s Laden war eigentlich noch gar nicht trocken als dieser Zwischenfall passierte.
Angelika hat meine Fotos gesehen und hat irgendetwas von Kunstausstellung erzählt. Ich wüßte gar nicht, was ich da zeigen sollte. Ich dokumentiere doch nur was ich sehe. Irgendetwas eigenes, eine Geschichte mit Fotografien erzählen. So etwas habe ich noch nie gemacht. Geschichten formulieren und erzählen doch nur die anderen. Alles, was ich im Fernsehen oder im Kino sehe, hat als Gerüst eine Geschichte, die sich jemand ausgedacht hat und sie niedergeschrieben hat. Ein anderer oder der gleiche hat sie dann umgesetzt in Bilder und Ton. Wenn keine Geschichte zugrunde liegt, ergibt es doch nur Muster, auch wenn es abwechslungsreich ist. Bei Mustern passiert trotzdem nichts, alles dreht sich im Kreis. Dieses Gefühl habe ich auch von mir und meinem Leben. Es ändert sich nichts, ich agiere nicht, damit ich nicht reagieren muß.
Alles, was einschneidet, verändert, klarstellt, in Zusammenhänge setzt, ordnet, ist mit Schriftlichkeit verbunden. Alles andere ist nur Verzierung, Verschleierung, eigentlich Sinnloses, Aufgesetzes und Dazugegebenes. Aber Buchstaben sind für mich in erster Linie auch sinnlos. Nur für die anderen haben sie Sinn, sehr großen sogar. Sie lesen ihn heraus. Ist doch eigentlich ihre Sache. Die in ihrer Geheimloge. Muß mich doch nicht interessieren. Wenn ich mal die Augen anders aufmachen würde, könnte ich diese ganzen blöden Drucksachen mit ihren Beschriftungen ganz anders wahrnehmen. Als Muster, Rhythmus, Ornament. Nicht als Zeichen meiner Unzulänglichkeit, neiderzeugend auf diejenigen, die sie lesen können. Das ist eigentlich der einzige Sinn, den sie für mich haben.
Aber ich weiß nicht, ob ich Buchstaben von diesem eigentlichen Sinn trennen kann. Dazu müßte man wahrscheinlich geistig zurückgeblieben sein oder aus dem Urwald kommen, um noch keine Erfahrungen mit Schrift im herkömmlichen Sinne gemacht zu haben. Vielleicht hilft mir jemand dabei? Vielleicht müßten Buchstaben ihrer Lesefähigkeit beraubt werden, sei es durch Beschneidung oder Veränderung. Und hiermit könnte man dann einerseits mit den freien Formen experimentieren, aber sie auch im herkömmlichen Sinn benutzen. Ein Plakat machen zum Beispiel. Also schon mit einer Sender- und Empfänger-Funktion. Nicht nur Schmuck sondern auch mit einer Nachricht, die von einem zum anderen übermittelt wird. Müßte man mal ausprobieren.

19.
Wieder so eine Notiz an meiner Schreibtischlampe. Diesmal ist es leicht. „bi“ „ko“ „S“ und dann „Stahl“. Der Chef möchte mich sehen. Am besten gehe ich gleich mal rüber, mal sehen, was er will.
„Hallo, kommen Sie rein mein Lieber, setzen Sie sich.“
„Danke“
„Herr Peters, ich bin ja jetzt ein großer Fan Ihrer Arbeit. Wie lange sind Sie nun schon bei uns?“
„Acht Jahre.“
„Ja, das weiß ich doch. Ich war doch bei Ihrem Bewerbungsgespräch dabei. Ich will es kurz machen: Ich will Ihnen einen besseren Posten anbieten. Ihre Art wie Sie mit der Kamera umgehen, auf was Sie achten gefällt mir und jetzt könnte ich Sie mir gut als Polizeihauptmeister vorstellen. Na, was halten Sie davon ?“
Polizeihauptmeister, das bedeutet mehr Geld, aber auch öfters am Schreibtisch sitzen anstatt in der Dunkelkammer stehen. Das bedeutet BericXte scXreiben und Unterlagen wälzen. Da braucXe icX gar nicht lange nachdenken. Aber wie wird der Chef auf meine Absage reagieren? Und wie soll ich sie begründen? Er wird es bestimmt als Absage an ihn verstehen, er sieht sich ein bißchen als meinen Mentor, ist aber auch schnell eingeschnappt und würde eine Absage als persöhnliche Beleidigung empfinden. Die er auch nicht auf sich sitzen läßt.


20.
Ich habe mir noch Bedenkzeit geben lassen. Als Jugendlicher hat mir das eigentlich gar nichts ausgemacht, daß ich nicht lesen konnte. Ich sah keinen Grund darin, etwas zu lesen. In der Disco oder beim Platten kaufen habe ich mich auch so zurecht gefunden. Nur als es dann angefangen hat, daß ich auf eigenen Füßen stehen wollte, habe ich gemerkt, daß mir ganz entscheidende Kompetenzen fehlten. Bei Behörden oder in unbekannter Umgebung war ich dann auf einmal unfähig, mich selbständig zurechtzufinden oder mein Anliegen in geeigneter bzw. geforderter Form darzustellen.


21.
Jetzt hat sie mir das falsche Formular gegeben. Mit dem hier kann ich keinen Urlaub für nächstes Jahr beantragen. Jedenfalls hatte das Urlaubsformular letztes Jahr nicht zwei voneinander abgetrennte Boxen zum Eintragen. Dieses hier hat viel zu viel Spalten. Für was das alles? Ich habe dieses noch nie gesehen. Haben sich die Formulare geändert? Ansonsten hat sich auch nichts hier geändert, warum also das Formular zum Beantragen des Urlaubs ? Mir bleibt nichts anderers übrig, als es in die die sonst leere Ablage zu legen und zu warten bis Bernie aus dem Urlaub kommt.


22.
Ich mach mir schon wieder komische Gedanken. Frage mich, was mit mir angestellt wird. Bernie hat mich, bevor er nach Mexico abgedüst ist davon überzeugt, in diesen Schreiben und Lesen Kurs zu gehen. Mir ist ob der neuen Situation, in die ich mich begebe mulmig zumute.
Da setzt sich ein Mann neben mich. Er sagt zu mir, er wisse Alles. Na gut. Ich frage ihn:
„Und wie bringen die mir das Lesen bei ?“
„Zuerst werden Sie Buchstaben lernen. Das heißt, jeden einzelnen Buchstaben öfters hintereinander schreiben, o o o o o o o o . Und Sie lernen Morpheme. Das sind die kleinsten bedeutungstragenden Elemente in der Sprache.“
„Also Silben ?“
„Nein, Silben sind ja vom Sprechen abgeleitet. Morpheme von der Wortstruktur. Ein Beispiel: ‘tragen’, die Silben sind ‘tra’ und ‘gen’, die Morpheme aber ‘trag’ und ‘en’. Man nennt es den Sprachsystematischen Ansatz. Schrift hat eine Systematik, die sich in Etappen untergliedern läßt.“
„Das ist aber ganz schön abstrakt und technisch, oder?“
„Ja, und deswegen gibt es noch den Spracherfahrungsansatz. Hier werden die Teilnehmer dazu angehalten, selbst und möglichst frühzeitig selbst kleine Texte zu schreiben und zu lesen, die für Sie in Ihrem Alltag von Bedeutung sind. Das geht aus der Theorie hervor, daß gesprochene und geschriebene Äußerungen immer Handlungen sind, mit denen sich ein Mensch anderern gegenüber verständlich machen will.“
„Stimmt, man kann Sprache und Schrift ja nicht von dem trennen, was sie bedeutet. Ich versuche ja auch zu entziffern, was dort steht. Schrift ist ja dazu da, gelesen zu werden. Diese Lautgedichte von Jandl sind ja nur Geplapper, ich kann damit nichts anfangen.“
„Und deswegen ist der Schriftspracherwerb nicht getrennt von Handlungen, nicht abstrakt. Als Lernender sind nur schriftsprachliche Äußerungen für den Lernprozeß förderlich, mit denen ein spezieller Sinn für das Handeln verbunden sind.“
„Einfach so Schreiben ist mir noch nie in den Sinn gekommen.“
„Warum auch. Aber weiter im Text. Dazu kommt noch, daß Erfahrungen in der Alfabetisierung gezeigt haben, daß häufig bestimmte elementare Fertigkeiten auf der kognitiv-pragmatischen Ebene fehlen. Dazu gehören beispielsweise mangelnde Differenzierungsleistungen bei einzelnen Lauten, die fehlende Synthesefähigkeit bei bestimmten Buchstabenkombinationen. Oder Schwierigkeiten bei der Zuordnung einzelner Grapheme zu entsprechenden Phonemen.“
„Und wie kommt das ?“
„Das ist keine Krankheit, wissenschaftlichen-medizinischen Erkenntnisse gibt es eigentlich auch nicht dazu. Auch zu dem ganzen Themenbereich Analphabetismus. Der ist hauptsächlich biografisch bedingt.“


23.
Und nun sitze ich hier. Ich sehe eigentlich keinen Grund dafür. Aber Bernie hat mich so lange genervt, bis ich bei der Volkshochschule angerufen habe. Schon allein der Name Volkshochschule läßt bei mir alle Lichter ausgehen. Das klingt so nach zweitem Bildungsweg und Zweiter Klasse. Aber vielleicht lerne ich durch das Lesen neue Bereiche des Lebens kennen. Langsam füllt sich der Unterichtsraum. Mir wird langsam mulmig zumute und ich überlege, ob mich jemand erkennt.



24.
Das Rot ist richtig intensiv. Die Beugen haben einen Schwung, der mir den Atem raubt. Das habe ich noch nicht gesehen. Was kommt jetzt? Eine harte, scharfe schwarze Kante schraubt sich von unten nach oben in den Raum. Ich habe nicht mehr erfahren, ob ich im Kurs jemand kenne. Ich bin gegangen. Der Hausmeister des Gymnasiums, in dem der Kurs stattfindet kam in den Unterichtsraum und schnauzte mich an, was ich hier verloren hätte. Das Schulhaus wär geschlossen und ich solle verschwinden. Dann bin ich aufgestanden, habe ihn angeschaut und er hat auf einmal Angst bekommen. Ich bin dann einfach gegangen. Jetzt bin ich auf der Straße. In dem Gymnasium hat es mir auch nicht gefallen. Muffig war es dort. Ich muß mir noch eine Geschichte für Bernie einfallen lassen. Am besten etwas mit tollen Mädchen, dann kommt er nächstes Mal auch mit.

Auflösung

S.7: allein bei mir in der Küche, wenn ich nicht das Mittagessen in der Kantine einnehmen

S.12: irgendwas an Dir

S. 24: Mir ist es wichtig, daß ich öfters mal was neues ausprobiere.“

S. 31/32: as bedeutet Berichte schreiben und Unterlagen wälzen. Da brauche ich gar n

S.. 32: ur als es dann angefangen hat, daß ich auf eigenen Füßen stehen wollte, h

S. 33: Morpheme
S. 33: Elemente